Das chemische Gedächtnis des Meerwassers

CTD-Sonde

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Wissenschaftler untersuchen die im Ozean gelösten Biomoleküle und lesen in ihnen wie in einem Geschichtsbuch des Meeres.

Wasser vergisst nicht, sagt Prof. Boris Koch, Chemiker am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft. Egal, was im Meer passiert: Ob die Sonne scheint, Algen blühen oder eine Schule Delfine durch ein Seegebiet schwimmt – alles und jeder hinterlässt biomolekulare Spuren. Einige von ihnen können Boris Koch und Kollegen jetzt mithilfe einer Kombination neuer Techniken ausfindig machen und zurückverfolgen. Wie diese Analysen funktionieren und welche Vorgänge im Meer die Forscher bisher aufdecken konnten, berichten die Wissenschaftler in einem Sonderband der Open-Access-Fachzeitschrift Biogeosciences.

Tümpel, Torflöcher und Straßengräben voll abgestandenem Regenwasser haben den Chemiker Boris Koch früher nie interessiert. „Ich dachte damals: Ein jeder kennt diese braune Brühe; was soll an ihr schon interessant sein. Heute arbeiten wir mit genau jenen Substanzen, die das Wasser im Straßengraben so braun färben – genauer gesagt mit gelöstem organischen Material, das nicht nur in Tümpeln, sondern natürlich auch in den Weltmeeren vorkommt“, sagt Boris Koch, der das Forschungsprojekt initiiert hat und Mitherausgeber des Sonderbandes ist.

In den Ozeanen ist die Konzentration dieser sogenannten Biomoleküle pro Liter Wasser zwar geringer als im Straßengraben. Würde man jedoch alles Meerwasser dieser Welt durch ein biomolekül-durchlässiges Sieb kippen und alle darin enthaltenen Bestandteile in Kohlenstoff-Einheiten umrechnen, sähe das Verhältnis anders aus: Im Sieb lägen schätzungsweise 25 Milliarden Tonnen gebundener Kohlenstoff. Er stammt hauptsächlich aus den Überresten von abgestorbenen Meeresorganismen aber auch aus der Biomasse lebender Wale, Fische, Algen, Bakterien, Seegras und anderen Meeresbewohnern. Unterhalb des Siebes würden sich dagegen etwa 662 Milliarden Tonnen gelöster organischer Kohlenstoff türmen, bestehend aus Zehntausenden verschiedenen Substanzen.

Diese vielen Substanzen haben Boris Kochs Neugierde geweckt: „Unsere Arbeit mit gelöstem organischen Material bringt zwei grundlegende Schwierigkeiten mit sich: Zum einen wissen wir bis heute nicht, wie viel organisches Material in das Meer gelangt oder dort produziert wird und warum nicht alles biologisch abgebaut wird. Zum anderen sind die einzelnen gelösten Biomoleküle so gering konzentriert, dass wir unsere Wasserproben stets anreichern müssen, um das darin enthaltene gelöste organische Material in einem ultrahochauflösenden Massenspektrometer am Helmholtz Zentrum München untersuchen zu können“, sagt Koch, der eine Kooperationsprofessur zwischen dem Alfred-Wegener-Institut und der Hochschule Bremerhaven innehat und Meereschemie lehrt.

Mit Hilfe dieses Massenspektrometers am Helmholtz Zentrum München, dem Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, ist es dem Wissenschaftler-Team um Boris Koch erstmals gelungen, im Zuge einer einzigen Messung Tausende Einzelkomponenten des gelösten organischen Materials, kurz DOM, (engl. dissolved organic matter) auf einmal zu identifizieren. „Das Gerät nennt uns die chemische Summenformel eines jeden Moleküls und gibt an, wie viel Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff oder Stickstoff es enthält. Diese Angaben benötigen wir, um herauszufinden, woher das einzelne Molekül stammen könnte“, erklärt Boris Koch.

Am Ende der Analyse im Massenspektrometer ergibt sich so ein chemischer Fingerabdruck, der im Zuge statistischer Berechnungen konkrete Rückschlüsse auf jenes Wasser zulässt, in dem das gelöste organische Material einst geschwommen ist. „Wir stehen erst am Anfang unserer Untersuchungen. Es scheint jedoch, als hätten wir mit dieser neuen Methode eine Möglichkeit gefunden, den chemischen Gedächtnisspeicher des Wassers zu nutzen“, sagt Boris Koch. So können die Wissenschaftler zum Beispiel sagen, wie alt das gelöste Material ist, ob es bei seinem Weg durch die Weltmeere starker Sonneneinstrahlung ausgesetzt war oder welche Bakterien und Planktonarten vermutlich einst im selben Wasserkörper geschwommen sind.

„Wir können sogar verfolgen, welcher Anteil des DOM seine Spuren in der Atmosphäre hinterlässt. Gischt und Wellen können DOM nämlich in die Luft transportieren, wo es einen wesentlichen Einfluss auf das Klima hat“, ergänzt Dr. Philippe Schmitt-Kopplin vom Institut für Ökologische Chemie am Helmholtz Zentrum München. Denn die wichtigsten Fragen zum DOM kommen aus der Klimaforschung. Boris Koch: „Das gelöste organische Material im Ozean ist eines der größten aktiven Kohlenstoffreservoirs der Erde. Doch bisher wird seine Speicherkapazität in der Klimaforschung nur wenig berücksichtigt, dabei bindet es Kohlendioxid über Zeiträume von 3000 Jahren und mehr – so alt war unser Probenmaterial im Durchschnitt.“

Für den Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut geht es nun darum, diese Wissenslücken zu schließen und mehr über die Rolle des DOM im globalen Kohlenstoffkreislauf herauszufinden. Anwendung dürfte das chemische Analyseverfahren zudem in anderen Teildisziplinen der Meeresforschung finden: „Ozeanografen könnten den chemischen Fingerabdruck des DOM immer dann zu Rate ziehen, wenn sich Wassermassen anhand von Temperatur- und Salzgehaltwerten allein nicht unterscheiden lassen. Zudem wollen wir auf einer der nächsten Expeditionen des Forschungsschiffes Polarstern gemeinsam mit Biologen untersuchen, ob das DOM der Wassermassen entlang der Wanderrouten Südlicher Seeelefanten bestimmte chemische Gemeinsamkeiten aufweist. Vielleicht finden wir ja einen Beweis dafür, dass sich diese Meeressäuger mithilfe des ‚Wasserduftes’ orientieren“, sagt Chemiker Boris Koch.

Er persönlich sieht heute in Anbetracht der neuen Erkenntnisse auch jeden Wassergraben mit anderen Augen. Koch: „Jetzt wissen wir, dass echte chemische Informationen in jedem Wassertropfen stecken und dank der neuen Technik können wir diese jetzt auch greifbar machen.“

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Geonet News vom 27.09.2012